Zertifikate

Interview - Fragen
Elegant International Filmfestival, 2024

1. Können Sie die Rolle des Monologs von E. Bulut bei der Vermittlung der Geschichte des Films näher erläutern?
Der Monolog schafft eine Brücke zur Vergangenheit, die im ersten Film „Spielplatz auf der visuellen und akustischen Ebene dargestellt wurde. Das „Gespräch“ mit dem Künstler Goya verbindet die Filmerzählung mit Geschehnissen in der Vergangenheit. Das fußt auf dem zyklischen Verständnis von Geschichte von Erdogan Bulut. Es ist Goya, der ihn versteht und weniger die Künstler der Gegenwart, weil Goya diese Geschichte von El Grecco kennt und sie weitergegeben hat an Picasso. Es sind spanische Künstler, die Fanatismus begreifen und die ehrlich eine Welt und die Menschen zeigen, ohne Schönfärberei oder Gefälligkeiten, die den Begriff der Schönheit mit der Wahrheit verbunden haben. 

Erdogan Bulut geht es hier um die Wahrheit der Zerstörung einer der Quellen unserer Kultur, den Versuch alte Kulturen und Sprachen regelrecht auszuradieren, ihre Religionen in das Vergessen zu versetzen. Das Verbindende zwischen den alten Kulturen, dass das Leben heilig ist und Mutter Erde unter uns Menschen leiden kann, soll verschwinden zugunsten einer Geschichtslosen Menschheit, die im Stillstand ihres Fanatismus, verharrt – ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. 
2. Wie setzt der Film Animationen ein, um seine Erzählung zu verstärken, und welchen spezifischen Zweck erfüllen sie in der Gesamterzählung?
Die Animationen sind reduziert auf das Wesentliche, das ausreichen soll, ihre Bedeutung für die Narration zu erfassen. Erdogan Bulut fasst das Geschehen wie im Vorbeigehen auf, wenn die Bewegung erfasst ist, reicht das für die Schilderung. Diese Reduzierung geschieht dadurch, dass der Künstler Bilder sieht, wenn sich Menschen z.B. unterhalten, die sich mit den Menschen und dem Gesagtem verbinden. Dies ermöglicht ein tieferes Verständnis für die Menschen, hierfür benötigt es keine äußerliche Ausführlichkeit oder Effekte.


3. Was hat die Wahl der Filmmusik inspiriert, und wie trägt sie zur Atmosphäre und zu den Themen des Films bei?

Die Filmmusik spricht anstelle der Worte und schildert die Emotionen der Menschen, die ihre Heimat verlieren und erzählt mehr von den auf der visuellen Ebene geschilderten Ereignis. Vieles ist bereits zerstört, die Landschaft fast verödet, die Menschen in ihrem Leid verstummt, so erzählt die Musik von den Erinnerungen, von den Ängsten, von den Grauen und versucht uns darin zu berühren, dass trotz der Leere und der Befremdung die wir beim Anblick von allen aufgegebenen Gegenden (kaum Bäume, keine Landwirtschaft, keine kulturellen Bauten, kein persönlicher Konflikt zwischen zwei Menschen) etwas Grauenvolles, Menschenverachtendes und zutiefst Dramatisches vor sich geht. 

4. Wie setzt E. Bulut die Sprache im Film ein, und welche Auswirkungen hat sie auf die Betonung der Erzählung?
Die Sprache akzentuiert die Erzählung. Da Erdogan Bulut im Deutschen einen leichten französischen Akzent hat, der auf seine Zaza-Muttersprache hinweist, ist der englische Sprecher ein Franzose. Grundtenor ist die Lebensenergie, die sich bei beiden Sprechern vermittelt. So fasst die Sprache das Geschehen nicht frustriert oder desillusioniert in Worte, sondern setzt der Darstellung von Einsamkeit und Grausamkeit, von Verlust und Hoffnungslosigkeit die Energie der Kunst und des Lebens entgegen. Die „Pflanze des Lebens“ ist hier das gesprochene Wort selbst, die Tradierung der Geschichte über Bilder und Erzählung – wenn alles andere zerstört ist.


5. Können Sie einen Einblick in die Darstellung der aktuellen Weltlage geben, wie sie E. Bulut dem Künstler Goya im Film beschreibt?
Von der Wiege vieler Kulturen ist eine zerstöre Landschaft übriggeblieben, die die Menschen zwingt fortzugehen. In der Vergangenheit ist dort öfter eine Zerstörung durch fanatisierte Menschen geschehen, jedes Mal verarmten diese Regionen mehr, gerieten mehr ins Abseits und manchmal war dies der Beginn eine Welle an Zerstörung die weite Teile der Welt erfasste. Bislang sind die Übergriffe sporadisch oder auf Terrorakte „begrenzt“, aber sie verdichten sich zunehmend und können auch andere Erdteile erfassen und zu einem globalen Krieg führen.

Was Krieg und Zerstörung für die Erde bedeuten und wie Naturgewalten und Epidemien unser Leben plötzlich bestimmen können, schildert der Film „Ma hama esti“, der wie der erste Film wieder Blicke in die Zukunft unternimmt.


6. Welche Bedeutung hat der Verweis auf das Gebiet, in dem die Sonne aufgeht, mit seinen verschiedenen Sprachen und Kulturen, im Zusammenhang mit dem Thema des Films?
Die Muttersprache des Künstlers ist Zaza, eine Sprache die bis weit vor die Zeit Zarathustras zurückreicht. Sie ist die Ursprache aller indogermanischen Sprachen und hat auch die romanischen Sprachen beeinflusst. Die Bedeutung Zarathustras für Persien und später bis nach Indien hinein (ich denke an die Parsen), kann man auch an der westlichen Kultur nachvollziehen. Die frühen Kirchenbauten, die Ablehnung von Tieropfern, die Heiligkeit allen Lebens, der Schutz auch von Insekten, die Bedeutung der Vögel, die Heiligkeit von Wasser, Erde, Luft, die Verbindung von Himmel und Erde, die Einheit als sinnvoller Seins-Zustand für den Einzelnen, der Anspruch auf 

Gerechtigkeit, die ein wertvolles Gut, war Zarathustras Gerechtigkeitssinn kann Sokrates, den großen griechischen Philosophen beeinflusst haben -  sind Teil der alten Kulturen und Religionen, die im Austausch miteinander standen und sich gegenseitig bereichert haben und miteinander entwickelt haben. Viele gehen zurück auf unsere Vorzeit, es ist ein Wissen, das über mehrere 10.000 Jahre weitergegeben wurde. In der frühen Antike galt auch die heutige Türkei als das Land der 1000 Religionen, das mit seiner außerordentlicher Toleranz und Kultiviertheit in die Geschichte eingegangen ist.

Das ist die Sicht einer Europäerin: die Sonne geht im Osten auf und der Osten ist der Nahe und Mittlere Orient. Mich interessiert sehr wie Ihre Sicht von Indien aus gesehen ist? Für Sie ist eventuell der Sonnenuntergang im Nahen Orient und der Sonnenaufgang eventuell in China. Aus Sicht der östlichen Türkei, geht die Sonne in Indien auf und in Europa unter. Für Goya ging die Sonne im Atlantik oder in Amerika unter.

Der Film zeigt in seiner Ästhetik und auf der Soundebene, dass wir alle vom Fanatismus bedroht waren und auch wieder bedroht sein können. Der Weg der Sonne ist der Gleiche überall auf der Welt: wir erleben jeden Tag den Sonnenaufgang und den Sonnenuntergang, nur die Uhrzeit ist eine andere. Der Film orientiert sich nicht an der Uhrzeit sondern beschreibt den Zustand als einen nahezu irreversiblen Stillstand. 

Der Weg hinaus aus der zerstören Welt der Menschen ist das, was übrig zu bleiben scheint. Was dies für andere Länder und Kontinente bedeutet, lässt der Film offen.


7. Wie thematisiert der Film das Konzept von Chaos und Krieg und auf welche Weise wird dies visuell und erzählerisch dargestellt?
Die kriegerischen Handlungen sind modern und alt: auf der einen Seite Kampfflugzeuge auf der anderen Seite martialisch erhängte Menschen, Versklavung und brutale Köpfungen, die sich verlieren hinter einer Art Vorhang, Lianen oder anderen Blick-Barrieren für die Menschen und für uns. Wir sehen nur einen Teil des Grauens, weil dies so gewollt ist. Aber auch die fanatisierten Menschen sehen kaum noch mehr, als ihr Ziel die Bevölkerung zu unterwerfen, zu quälen und selbstgerecht zu töten, ihre grausame Weltsicht lässt keinen Blick zu auf das Andere im Menschen zu. Es verändert ihr Sehen und Hören.

Das Chaos war zuvor und findet weiterhin in innerlicher Form statt, wie sehen das Ergebnis, aber wissen und fühlen aufgrund der Soundebene, wie es war, als all das Morden und Versklaven gleichzeitig begann.

Visuelle Symbole bilden eine weitere Ebene des Erzählens: Zuerst symbolisiert der Film Glockenschläge als eine Bitte um Aufmerksamkeit, dann steigen Friedenstauben auf, diese Bilder sollen nicht vergessen werden, bevor die Schilderung des Geschehens beginnt. Später erwacht eine mythologische Figur der Zaza, die unter den Bergen geschlafen hatte und Feuer speit: es ist der Drache, der wieder auferstanden ist und bald geschieht auf der akustischen Ebene die Erinnerung an die Pflanze des ewigen Lebens. Dieser Krieg bedroht das Leben an sich und die Zukunft der Menschen dieses Teiles der Welt.

Erdogan Bulut hat als Kind erlebt wie Menschen bei einer Mondfinsternis mit Gewehren den Drachen vor dem Mond vertreiben wollten. Der Drache kann den Mond und die Sonne verdunkeln, er kann mit seinen Flügeln das Sternenlicht verbergen, so dass alles Leben auf dem Planeten verkümmert. 

Dieser mythologische Drache ist in diesem Film erwacht, er kann auch das Ende des zukünftigen Lebens bedeuten, zumindest in der Region, die Film beschreibt: ihre Farben werden im Verlaufe der Erzählung blasser, die Landschaft reduzierter, es fehlt Leben und auch die Hoffnung auf Leben.

„Wir haben den Auftrag das Leben zu schützen, als Auftrag unserer Vorfahren, die den Drachen bereits kennengelernt haben – so erzählt es die Mythologie der Zaza.“, sagt Erdogan Bulut.


8. Können Sie die Symbolik der Dunkelheit und des Vergessens im Film erörtern und wie sie mit der übergreifenden Erzählung verbunden ist?
Das Vergessen wird unter anderem über eine Leere veranschaulicht, es gibt keine Architektur, die Erinnerungen an die eigene Kultur hervorrufen. Die wenigen Objekte sind nicht wirklich verortbar. Niedrige Mauern könnten Überreste einer Siedlung sein. Ebenso die alte kleine Straße: eine alte Frau humpelt in einem in einem Schlafkleid nachts hilflos und müde einfach nur der Straße entlang, ohne Ziel, als sei sie der letzte Mensch in dieser Straße. Eine Mutter hält verzweifelt und erschöpft ihr Kind, sie ist alleine, als sei sie zurückgelassen worden oder die einzige, die noch da sei. Soldaten, militärisches Gerät, Flugzeuge beleben ab und an die weite Landschaft mit Lärm, mit Farbe, mit der Bewegung der Flugzeuge. 

Die erhängten Menschen sind umhüllt: gesichtslos, ohne Identität. Die versklavten Frauen haben ebenfalls ihre Identität verloren. Licht und Schatten sind hier: schwarze Täter und weiße Opfer. Die schwarze Farbe ist Kennzeichen der fanatischen Unterdrücker. Das Vergessen ist bereits geschehen: es fehlen Menschen, es fehlen kulturelle Zeugnisse, es fehlt eine Aussicht auf etwas anderes, als den Zustand der Zerstörung und Auflösung. 

Erst am Ende des Films verlassen einige Überlebende das Gebiet.


9. Inwiefern spielt der Künstler Goya eine Rolle im Film und wie entfaltet sich die Geschichte aus seiner Perspektive?
Die Geschichte aus der Sicht Goyas ist die Geschichte der Erinnerung an El Greccos Bilder und dessen Schicksal.

Der Maler Goya schulte seinen Blick an den Bildern El Greccos, dessen Geburtsname nicht bekannt ist und, der vor Expansion des Osmanischen Reichs wahrscheinlich von Kreta über Italien nach Spanien seine Liebe zur Kunst durch Flucht rettete. 

El Greccos Malerei ist expressiv, von Licht und Schatten und beeindruckend schonungslosen Körperdarstellungen geprägt. Während El Grecco vor allem für kirchliche Auftraggeber malte und religiöse Themen umsetzte, war Goya 250 Jahre später für weltliche Auftraggeber (Adel) tätig und erstellte Freie Malerei. Licht und Schatten und die Verzweiflung, die er wiedergibt, erinnern an die 

Malerei El Greccos. Beide scheuten nicht davor zurück das Grauen des Krieges in Bildern festzuhalten und die gelebten Alpträume der Menschen zu visualisieren.

Es sind Erinnerungen der Menschheit, die uns in dunklen Zeiten verstehen. 

Goya ist ebenfalls ein immens ausdrucksstarker Maler und bis heute aktuell in seinen Darstellungen. Über sein Leben und über ihn als Menschen wissen wir nichts, aber seine Malerei erzählt uns von seiner Fähigkeit mit den Menschen seiner Zeit mitzufühlen und sie und ihre Emotionen einfühlsam darzustellen.

Genau das ist auch das Selbstverständnis von Erdogan Bulut. Er nimmt die Erzählung bildhaft auf und versucht das Leid selbst zu empfinden. In dem Moment als das Weltgeschehen das Vertrauen in die Menschheit erstickt, beginnt der Film, der sich zwischen Traum, Mythologie und Wahrheit bewegt und wie das Wasser fließt.

S. Bieker